Bereits im Jugendstadium bejubelt, stellt der jüngst gefüllte Bordeaux-Jahrgang 2022 eigentlich ein Paradoxon dar. Trotz Rekorden in Sachen Hitze und Trockenheit erbrachte er nämlich Rotweine mit klarer Frucht, Vitalität und straffer Struktur, die gutes Lagerpotenzial versprechen. Vinaria war bei der Präsentation des Jahrgangs in Bordeaux.

Jean-Emmanuel Danjoy, Head Winemaker Baron Philippe de Rothschild. © Mathieu Anglada

Nun ist er endlich da – der bereits bei den En-Primeur-Verkostungen im April des Folgejahres von nicht wenigen Fachleuten als groß proklamierte Jahrgang 2022. Ohne dessen hohe Güte schmälern zu wollen, wurde die damals vorherrschende Euphorie über den Jahrgang zweifellos zusätzlich durch die Tatsache befeuert, dass man ob der extremen Wetterverhältnisse in diesem Jahr von Qualität und vor allem Charakter der Weine äußerst positiv überrascht war. 

2022 war über weite Strecken heiß und trocken – Mai bis August waren allesamt die wärmsten Monate ihres Namens seit mindestens 15 Jahren, und auch der September war wärmer als der Durchschnitt. Zeitweise war es extrem heiß, mit einer Reihe von sommerlichen Hitzewellen. Glücklicherweise waren allerdings die Sommernächte hinsichtlich Temperaturen vergleichsweise erträglich.

Ein Jahr der Abhärtung

Das klimatische Vorspiel zum Jahrgang 2022 war geprägt von einem milden und erfreulich feuchten Dezember, mit Niederschlägen 54 Millimeter über dem Durchschnitt, womit eine nach Ansicht vieler wichtige Wasserreserve für die folgende Vegetationsperiode geschaffen wurde. 

Im sonnenreichen Juli kam aber gleich die zweite Hitzewelle mit Temperaturen teils über 35 Grad Celsius daher, die Niederschläge lagen bei fast null. Diese Einflüsse bremsten das Wachstum der Beeren erheblich, und ab Mitte des Monats gab es erste Anzeichen für nennenswerten Wasserstress. Die Beeren hörten in dieser Phase auf zu wachsen, was teilweise ihre geringe Größe bei der Ernte erklärt.

Hitze und Trockenheit hielten ab Juni – abgesehen von einigen willkommenen Regengüssen bis Ende September – an, wodurch der optimale Erntezeitpunkt abgewartet werden konnte und die Lese entspannt ablief. Die Weißweine wurden mehrheitlich in den zweiten beiden Augustdritteln mit hohen Zuckerwerten und etwas erhöhten pH-Werten gelesen – die Weine präsentieren sich daher kräftig, eher vollmundig, mild und geschmeidig.

Bei den blauen Trauben gab es bezüglich des Erntezeitpunkts unterschiedliche Strategie: Viele Top-Weingüter ernteten früh, andere aber auch mittelspät, manche flott innerhalb weniger Tage, andere dehnten die Lese auf mehrere Wochen aus. Exzellente Weine gab es in beiden Lagern. 

Merlot wurde teils schon ab Ende August gelesen, die Lese der Cabernets erfolgte je nach Gegend rund um den 10. September und wurde vielfach bis Ende des Monats abgeschlossen. Die kleinen Beeren bedingten eine merklich geringere Saftausbeute als in den meisten Jahren, dafür waren die Zuckergradationen ziemlich hoch.

Das Wunder von Bordeaux

Rätselraten herrschte, warum dieses Jahr extremer Hitze und Trockenheit Weine von derart hohem Qualitätslevel hervorzubringen imstande war. Besonders verblüffend sind die Vitalität und Klarheit vieler Rotweine, umso mehr, da ja die Säuregehalte tendenziell eher niedrig sind.

Der Erfolg des Jahrgangs dürfte an vielen Faktoren liegen. Aus Sicht des Wetterverlaufs waren sicherlich die hohen Niederschläge im Dezember 2021 wichtig, in deren Verlauf die Wasserreservoirs aufgefüllt wurden; wesentlich schienen auch die teils starken Regengüsse im Juni 2022. 

Einigkeit herrscht darüber, dass ein entsprechendes Laubmanagement von immanenter Bedeutung war. Beschattung war angesagt, Freistellen der Traubenzone fehl am Platz. Viele wiesen auch auf die Wichtigkeit der Bodenbedeckung und Bodenbearbeitung hin: begrünen, mulchen, mit Stroh abdecken - hier wurden mehrere Strategien erfolgreich verfolgt. 

Der Erntezeitpunkt wurde teils früh angesetzt, teils erst etwas später und in die Länge gezogen. Auch hier gibt es erfolgreiche Beispiele für beide Strategien. Bei der Verarbeitung war Vorsicht bei der Extraktion angesagt, da die Beeren eben sehr klein waren. Auch beim Holzausbau wählten viele einen sanfteren Weg, also weniger Neuholz

Ausgezeichneter Jahrgang 2022

Unabhängig aller Erklärungsversuche ist die Qualität insbesondere der Rotweine sehr hoch, ob diese allerdings zu den allerbesten zählen, darf man hinterfragen. Für mich stehen 2010 und 2016 eindeutig über 2022, vermutlich auch 2009 und der wunderbare, unterschätzte Jahrgang 2020. Es gibt aber 2022 viele Spitzenweine, hohe Durchschnittsqualität und eine Vielzahl von sehr guten wie trinkvergnüglichen Klassikern im Preis-Leistungs-Bereich. 

Absolute Top-Weine kamen am linken Ufer von Mouton Rothschild und Léoville Las Cases sowie Lafite, Latour, Léoville Poyferré und Rauzan Segla. Im Pessac-Léognan stachen Haut Brion und La Mission sowie der wunderbare Malartic Lagraviere heraus. Aus dem Libournais beeindruckten ganz besonders Cheval Blanc, Le Pin, Vieux Château Certan sowie Ausone.

Die trockenen Weißweine zeichnen sich durch Schmelz und Fülle aus, bei kraftvollem Alkohol und überwiegend eher milder Säure. Haut-Brion und Smith Haut Lafitte waren meine Favoriten. Bei den Süßweinen gibt es elegantere und opulentere Exemplare, wobei von den wenigen verkosteten Vertretern La Tour Blanche herausstach.

 

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Das beeindruckende Tor gibt Einblick in die Weingärten von Léoville Las Cases. © Léoville Las Cases
Das Top-Château Ausone liegt umgeben von den gutseigenen Weingärten in beherrschender Lage oberhalb von Saint-Émilion. © Château Ausone
Am Premier-Cru-Classé Chateau Latour werden etliche Parzellen mit Pferden bewirtschaftet. © Premier-Cru-Classé Chateau Latour
Florence Forgas ist Kellermeisterin bei den Schwesterweingütern La Mission Haut-Brion und Haut Brion. © Haut Brion
Ernte bei Prachtwetter auf Château Haut-Brion in Pessac. © Haut-Brion
Ein wunderbarer Sauternes kam von Château La Tour Blanche. © Château La Tour Blanche
Nicolas Audebert ist Chief Winemaker auf Château Rauzan-Ségla, das zum Imperium der Familie Wertheimer von Chanel gehört. © Federico Reparaz
Exzellent ist der würzige 2022er-Saint-Julien von Château Gruaud Larose. © Château Gruaud Larose
Nicolas Glumineau ist General Manager und Weinmacher auf Comtesse de Lalande und de Pez. © Comtesse de Lalande
Château Cos d'Estournel aus Saint-Estèphe wird zu den Super-Seconds der Klassifikation von 1855 gezählt. © Château Cos d'Estournel
Großes Weingut mit immer wieder hoher Qualität: Château Lascombes in Margaux. © Château Lascombes
Team von Léoville Poyferré: Sara Lecompte Cuvelierflankiert von Önologin Isabelle Davin und Kellermeister Didier Thomann. © Léoville Poyferré
Jean-Charles Cazes von Pauillac-Star Château Lynch-Bages. © Château Lynch-Bages
Schotter und Muscheln in den Böden von Château Malartic Lagravier in Léognan. © Château Malartic Lagravier
Der futuristisch anmutende Kellerbau vom Spitzen-Chateau Cheval Blanc in Saint-Émilion. © G. Uféras
Das Spitzen-Château Beauséjour wird von Joséphine Duffau-Lagarosse und Prisca Courtin geführt. © Château Beauséjour
Der hervorragende 2022er von Premier Clos Fourtet wurde mit Unterstützung von Top-Berater Stéphane Derenoncourt geschaffen. © Taylor Yandell
Florence & Daniel Cathiard sind Eigentümer des biodynamisch bewirtschafteten Château Smith Haut-Lafitte in Pessac-Léognan. © Haut-Lafitte
Château PavieMacquin liegt in bester Lage am Kalksteinplateau von Saint-Émilion. © Château Pavie Macquin
Château Peby Faugeres ist das Strweingut im Imperium vom Schweizer Unternehmer Silvio Denz. © Château Peby Faugeres
Guillaume Thienpont vom wiederum herausragenden Vieux Château Certan in Pomerol. © Vieux Château Certann